Simulation vs Telling
Eine weitere Frage, die ich mir über die gesamte Entwicklungszeitraum gestellt habe, und die auch immer wieder einige Regeln beeinflusst hat, ist die Frage nach dem Simulationsgrad: Wie realistisch will man sein? Ab wann fängt die Simulation an, den Spielfluss und den Spielspaß zu bremsen? Es macht keinen Spass, wenn man nach einer kleinen Verletzung für Wochen im Krankenhaus liegen muss, oder wenn man wie in der realen Welt nach „nur“ einer schwereren Wunde eigentlich im Todeskampf ist. Macht man die Heilung wiederum zu leicht oder das Kämpfen zu lang, wird die Welt schnell unglaubwürdig.
Ich unterscheide hier zwischen Telling und Simulation.
Telling und Simulation
In Kurzform:
Telling: „Bau was Cooles, das das Spiel und die Welt bereichert, aber darin verankert ist, solange es dem Spielfluss und vor allem der Stimmung dienlich ist.“
Simulation: „Bedenke wohlweislich, was du wie tust und lies dir hierzu dringend die Regeln durch. Es gibt für fast alles eine Tabelle oder Werte“
Telling hat viele Vorzüge, die den Spielfluss betreffen. Ein tellinglastiges Regelwerk hat meistens einen schnelleren Spielfluss und versucht, mit wenigen Regeln das Minimum abzudecken, anstatt alles regeltechnisch zu regulieren. Dies bedeutet, dass die Spieler und die Spielleitung dazu angehalten sind, vieles mit ihrer Vorstellungskraft abzudecken. So ist es in tellinglastigen Regelwerken nicht nötig, fünfzehn verschiedene Dolche, zwanzig Schwerter, dreizehn Langschwerter und so weiter aufzulisten. Systeme wie Exalted kommen mit drei Waffenklassen im Nahkampf aus, Leicht, Mittel und Schwer. Der Nachteil von wenig(er) Regeln heißt, dass man oftmals abwägen und sich absprechen muss, damit das Ganze fair bleibt.
Simulation bedeutet innerhalb eines Regelsystems, dass dieses sehr ausführlich und kleinteilig sein kann. Hierdurch wird garantiert, dass alle Spieler den gleichen Voraussetzungen folgen (müssen), hat aber oft auch zur Folge, dass der Spielfluss deutlich langsamer ist. Systeme wie DSA können kleinteilig werden und viele feine Unterschiede zwischen den einzelnen Waffen und Fertigkeiten haben. Aber selbst „recht simple“ Systeme wie das alte AD&D können trotz simpler Regel erstaunlich viele unterschiedliche Waffen auflisten.
Beides funktioniert für sich wunderbar und hat Vor- und Nachteile. Beide können zum „Realitätsgrad“ des Spiels bedeutend beitragen – oder auch kontraproduktiv sein. Wohl die meisten Rollenspiele haben eine Mischung aus Telling und Simulation, je nachdem welcher Bereich der Regeln betroffen ist. So kann z.B. das Kampfsystem sehr detailliert ausgearbeitet sein, dafür gibt es kaum bis keine Regeln für Tätigkeiten wie Alchemie oder weltliche Heilung. Es hängt sehr von der Art der Spieler und der Spielleiter ab, welches System das für diese Gruppe „richtige“ ist.
Ich habe während der Entwicklung von MAGUN immer wieder einen Schritt mehr in Richtung Telling gemacht, auch wenn man das in der aktuellen Version noch nicht ganz spürt – befürchte ich. Wenn ich eine weitere Version von MAGUN mache, wird sie auf jeden Fall noch mehr in die Tellingrichtung gehen, und den Simulationsstil weiter verlassen, weil ich in meinen Jahren als Spielleiter gemerkt habe, dass ein zu hoher Simulationsgrad den Spielfluss für mich zu sehr stört. Ausgespielte Momente werden unterbrochen, wenn der Spieler dauernd in Tabellen nachschauen muss, welche Werte gerade wichtig sind.
Ich will euch hier mal ein paar Beispiele aus meinem Regelsystem geben, um deutlich zu machen, wann ich mich für Telling oder für Simulation entschieden habe.
Waffen
Bei den Waffen habe ich jetzt noch viele einzelne Werte, doch das war in den ersten Versionen von MAGUN deutlich mehr. Ich wollte feine Unterschiede zwischen den Waffen und einen erhöhten „Realitätsgrad“, indem ich Regeln für das Stumpfwerden und Pflegen einer Waffe gebastelt hatte. Waffen wurden durch den Einsatz im Kampf langsam stumpf und konnten sogar zerstört werden. Sie hatten Widerstands- und Strukturwerte. Das Ganze ging so weit, dass man teilweise nach jeden Schlag im Kampf auch diese Werte managen musste. Es dauerte nicht lange, da wurde diese Regel entweder übersehen, vergessen oder bewusst ignoriert. Es machte weder mir als Spielleiter noch den Spielern Freude, auf so viel Kleinkram achten zu müssen, so dass diese relativ schnell wieder wegfiel. Trotzdem gibt es recht ausführliche Tabellen zu den Waffen und die verschiedenen Waffen haben sehr unterschiedliche Werte – sie einfach nur, ähnlich Exalted, in wenige Gruppen einzuteilen, war mir wieder zu realitätsfern.
Ein Problem bei solchen „Wünschen nach Realität“ ist allerdings die Realität selbst. Wenn man Schwertkämpfer befragt, was eine Waffe und den Kampf ausmacht, merkt man schnell, dass ein Kampf in einem Rollenspiel nur wenig mit der Realität zu tun hat. Man kann kaum Waffen als solches mit Werten behaften.
Fertigkeiten (Beispiel Kampf und Sprache)
Wenn man als Laie zum ersten Mal Schwertübungen macht und mal mit jemanden trainiert, der schon lange Kampferfahrung hat, merkt man schnell, wie unendlich unterlegen man als Anfänger ist. Nicht einmal die ersten Grundhiebe sind sauber, und in einem wirklichen Kampf würde man gegen einen geschulten Kämpfer keine drei Sekunden überstehen. Diesen Part fand ich wichtig, wenngleich er furchtbar deprimierend sein kann. Aber ich mag es schon nicht, wenn in Kinofilmen ein Charakter nach zwei Minuten ein Schwert beherrscht und sich gegen einen Altmeister behaupten kann. Das ist ein Grad an „talentiert“, der oft die Glaubwürdigkeit überschreitet und je nach Film verzeiht man das mal mehr, mal weniger. Diese Kluft zwischen geschulten und ungeschulten Kämpfer wollte ich also beibehalten, sodass man in meinem System anhand der Werte schnell merkt, wer das Kämpfen geübt hat und wer nicht.
Ein anderes Beispiel ist die Sprache. Es gibt Systeme, da kann man einfach eine oder mehrere Sprachen aussuchen und man kann diese dann einfach, ohne Abstufungen. In anderen Systemen wird in kleinsten Abstufungen unterschieden, wie gut man eine Sprache beherrscht. Ich finde Sprachen in einem Rollenspiel immer sehr spannend. Sie können interessante Hürden bilden und machen Reisen in ferne Länder abenteuerlicher – oder anstrengender. Ich habe mich in meinem System dazu entschieden, Sprachen zwar recht „teuer“ in der Anschaffung zu machen, aber auf kleinteilige Abstufungen zu verzichten. Sprachen haben bei mir 4 Stufen: nicht beherrschen, ausreichend sprechen können, gut schreiben können und akzentfrei poetisch wie fachmännisch diskutieren können. In meinen Augen braucht es eigentlich nicht mehr während ich mit weniger meist nicht ganz zufrieden bin.
Heilung
Das Thema Heilung ist in meinen Augen eine der schwersten Entscheidungen zum Thema Telling gegen Simulation. Will man realistisch sein, ist jeder Kampf entweder tödlich oder mit wirklich langen und zermürbenden Krankenhaus-/Heilerbesuchen verbunden. Macht man es zu leicht, um den Spielfluss nicht zu gefährden, werden Kämpfe und Verletzungen nicht mehr ernst genommen und man verliert als Spielleiter ein Druckmittel, das für mich sehr wichtig ist. Bei der Heilung hat mein System mit die meisten Änderungen erlebt. Von „realistisch“ lange bis übertrieben kurz habe ich alles an meinen großartigen Versuchkaninchen … ähm … ich meinte Testspielern ausprobiert. Am Ende hat sich eine recht schnelle Version durchgesetzt, die aber lang genug ist, um dichte Abenteuer spannend zu ergänzen.
Ausrüstung
Bei einer Sache habe ich mich zu einer etwas gewagten – sich für mich selbst immer noch komisch anfühlenden, aber funktionierenden – Tellingvariante entschieden. So habe ich bei Ausrüstung und Zutaten auf genaue Gewichtsangaben verzichtet. Bei Zutaten und Materialien spreche ich von Portionen und nur bei Waffen und Rüstungen führe ich Gewichte auf. Zwar habe ich ein Maximum an Traglast für einen Charakter festgelegt, dieser bezieht sich aber fast nur auf Waffen, Rüstungen und auf die gemeinsame Absprache zwischen Spieler und Spielleiter. In einer möglichen weiteren Version würde ich diesen Weg weiter einschlagen und sogar noch ausbauen.
In den mehr als 10 Jahren, in denen ich nun schon mein Rollenspiel austeste, habe ich mir angewöhnt, alles zu streichen, was meine Testspieler ignorieren oder ich als Spielleiter nicht mehr verwalten möchte. Alles was bei unseren Spielabenden den Spielfluss zu sehr gestört hat, wurde gestrichen und durch Tellingelemente ersetzt.
In einer anderen Form erlebe ich das auch bei anderen Rollenspielgruppen. Diese spielen ein simulationslastiges Rollenspiel wie DSA, lassen aber einen Großteil der Regeln weg und spielen einfach „nur“ in der ausgesprochen fein ausgearbeiteten Welt. Gerade DSA hat gefühlt jeden Feldweg ausgearbeitet und bietet daher unglaublich viele Möglichkeiten, einfach nur die Welt zu leben – aber wer möchte, kann sich mit den Regeln für Kartoffelanbau beschäftigen. Auch hier zeigt sich also, dass es sehr auf die Spielgruppe ankommt, welches System für sie besser funktioniert. Ich hoffe, bei MAGUN einen Weg gefunden zu haben, der einen Rahmen bietet, anhand dessen die Spielgruppen sich die für sie optimale Weise herausarbeiten können.
*mjam*
Ich bin zwar eingefleischter DSA’ler und stöber auch in anderen Systemen gerne in detailierten Ausrüstungs- und Waffenkatalogen, aber zuletzt war der Spielspaß dann doch meist höher, wenn der Fokus auf unterhaltsamen Telling lag. Die ganzen Tabellen waren für mich dann meist nur noch Fluff der abseits des Spieltisches konsumiert wurde und an den Spielabenden nur noch rudimentäre Bedeutung hatte.
Vor einiger Zeit habe ich mir auch mal das FATE-Regelwerk besorgt und war schwer begeistert. Allerdings ist das für mich, der FATE noch nie gespielt hat, leider auch etwas abstrakt. Ich will es unbedingt einmal spielen und hätte danach wahrscheinlich auch gute Lust das mal zu leiten.
Daher springt mich dein Text hier sehr an. Bei Kämpfen und Verletzungen habe ich es gerade bei DSA zuletzt sehr gritty und eher hart gehalten, so dass es harmlose Scharmützel nur selten gab und die Regenerationsphase danach immer eine gute Gelegenheit war auch wieder mehr gesellschaftliches Spiel mit reinzubringen.
Besonders auf dein Ausrüstungssystem bin ich gespannt, denn da habe ich tatsächlich immer wieder Mühe die richtige Mitte zwischen Detailtum und Handhabbarkeit zu finden. Gerne halte ich es lockerer, aber wenn mir dann Spieler mit halben Waffenschränken daherkommen und derart Stur sind, dass sie nur klare Tragkraftregeln akzeptieren, dekoriere ich gerne meinen SL-Schirm mit neuen Bissspuren….
In dem Sinne hoffe ich Magun bald selbst mal erleben zu können 🙂
Ich hoffe Dich begeistern zu können. Merke allerdings selbst, dass es die perfekte Lösung nicht gibt. Also zumindest habe ich noch keine für mich selber gefunden 😉